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Andreas Baum: Wir waren die neue Zeit

Ich habe gelesen: „Wir waren die neue Zeit“ von Andreas Baum.

Wir schreiben das Jahr 1990, die Mauer ist eben gefallen. Im Ostteil Berlins kommt es massenhaft zu Hausbesetzungen (der Überblick). Marode Stadtviertel, jede Menge Leerstand und unklare Besitzverhältnisse – die Gelegenheit ist günstig. Dazu kommt: Die Polizei im Osten ist überfordert, die Polizei im Westen nicht zuständig.

Eine bunte Truppe besetzt ein Gründerzeithaus in der Nähe des Rosenthaler Platzes. Schnell liegt die Gruppe im Klinsch – mit Nazis, den Bullen und anderen, konkurrierenden Besetzern. Und leider: Auch untereinander sind sich die Besetzer*innen alles andere als grün. Es geht um Macht und Einfluß, um Sex, um Liebe und um (in all den politischen Diskussionen geschickt verpackten) Egoismus. Zudem schiebt sich allmählich eine ganz hässliche Frage in den Vordergrund: Wer im Haus schnüffelt für den Verfassungsschutz?

Sebastian Brandt steckt mittendrin. Er ist der Erzähler, der glaubt, mit dem Haus eine Alternative zur piefigen westdeutschen Provinz gefunden zu haben. Doch schon bald beginnt er mit der radikal gelebten Utopie zu hadern …

„Wir waren die neue Zeit“ ist, um es in einem Wort auf den Punkt zu bringen, ein klassischer Hausbesetzerroman. Vielleicht ist es auch der erste seiner Art, gut möglich, ich weiß es nicht. Es werden genau jene Geschichten erzählt, die man diesbezüglich erwarten darf: Von Kämpfen und Krämpfen, außen wie innen, ein wenig Nostalgie, ein bißchen Austeilen, wilde Träume und das ernüchternde Scheitern. Andreas Baum ist, unbestritten, voller Sympathie für die Aktivisten und ihre Ideen, legt aber gekonnt den Finger in die Wunden. Und das ist gut so.

Ich habe das Buch quasi verschlungen und mich (als mensch mit ansatzweise ähnlichen Erfahrungen), nicht immer, aber zum Teil dann doch, königlich amüsiert. Und ich habe noch kein anderes Buch gelesen, dass mich derart nachhaltig in die Atmosphäre dieser frühen 90er Jahre zurückversetzt hat.

Klare Leseempfehlung also.


Bemerkenswert: Der Autor legt wert darauf, seinen Roman als fiktiv einzuordnen, hat aber vieles, worüber er geschrieben hat, selbst erlebt.


Andreas Baum
Wir waren die neue Zeit

Taschenbuchausgabe ‏: ‎ 288 Seiten

Herausgeber: Rowohlt Taschenbuch; 1. Edition (22. September 2017)
ISBN: 3499272962
€ 9,99 [D]

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