Rappelsnut

Wandern, Punkrock und der ganze Rest

Das Weblog

  • Siegfried Lenz: Der Überläufer

    Ich habe gelesen: „Der Überläufer“ von Siegfried Lenz.

    Sommer 1944. Auf der Rückfahrt vom Heimaturlaub zu seiner Einheit an der Ostfront strandet der Soldat Walter Proska bei einer Einheit, die sich in einer Waldfestung verschanzt hat. Die kleine Truppe, arg zermürbt von der Hitze, den Mücken und ständigen Angriffen der Partisanen, ist alsbald auf sich allein gestellt. Proska lernt die hübsche polnische Partisanin Wanda kennen und freundet sich mit Wolfgang, dem jüngsten seiner Kameraden, an. Die sinnlosen Befehle des kommandierenden Unteroffiziers sind brutal und menschenverachtend, während die kleine Truppe zunehmend in Bedrängnis gerät.

    Kurz darauf zeigt Proskas Kamerad Charakter – er läuft zu den Partisanen über. Proska bleibt und wird schließlich gefangen genommen. Walter trifft wieder auf Wolfgang und wird nach etwas Bedenkzeit ebenfalls zum Überläufer.


    „Der Überläufer“ ist Siegfried Lenz’ zweiter Roman, er schrieb ihn bereits 1951. Allerdings blieb er bis 2016 unveröffentlicht, die Herausgabe wurde vom Verlag dazumal aus politischen Gründen abgelehnt. Die Geschichte eines Überläufers zu den Sowjets war zu Beginn der 50er Jahre (Adenauer-Ära, Beginn des Kalten Krieges) schlicht nicht erwünscht.

    Für mich ist „Der Überläufer“ ein spannender und großartiger Roman über die Zerrissenheit der deutschen Kriegs- und Nachkriegsjahre – ich habe ihn quasi verschlungen. Siegfried Lenz brachte mit dieser seiner Geschichte die ganze Absurdität des Krieges exakt auf den Punkt – die Lektüre ist daher unbedingt zu empfehlen.


    Siegfried Lenz
    Der Überläufer

    Taschenbuch: 368 Seiten
    Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (8. September 2017)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3423145927
    ISBN-13: 978-3423145923
    € 10,90

  • Kai Lüdders: Mutwille

    Ich habe gelesen: „Mutwille“ von Kai Lüdders.

    Deutschland, Schauplatz Berlin, in einer vielleicht nicht mehr allzu fernen Zukunft. Das Land wird von einer mutierten Form des Lassa Virus heimgesucht. Immer mehr Menschen infizieren sich, es gibt die ersten Opfer. Mit der aufkommenden Panik kommt das öffentliche Leben nahezu zum Erliegen. Die Regierung ist ihrer Verantwortung nicht gewachsen – Hass, Hetze und Chaos machen sich breit. Der Ruf nach einfachen und schnellen, radikalen Lösungen kommt auf. Land und Gesellschaft zerreißen …

    Der erfolgreiche Lobbyist Paul Schneider steht im Mittelpunkt des Romans. Er arbeitet für das Gesundheitsunternehmen UMC in Berlin. Gemeinsam mit seinem Chef Norman Bruckmeier setzt er eine teuflische Spirale in Gang, um das aktuelle politische System aus den Angeln zu heben. Eine neue Ordnung soll entstehen, in der die soziale Herkunft keine Rolle mehr spielt und in welcher der gesunde Mensch das Maß aller Dinge sein wird. Der perfide Plan geht zunächst auf, bis das Vorhaben plötzlich aus dem Ruder gerät und scheinbar ungelenkt seine eigene, grausige Dynamik entwickelt.


    „Mutwille“ ist ein lesenswertes Gesellschaftsporträt und spannender Politthriller zugleich. Kai Lüdders durchleuchtet die Mechanismen des Polit-, Lobby- und Medienbetriebs und entfacht das albtraumhafte Szenario einer übersättigten Gesellschaft am Abgrund, welche – mit dem Blick auf das unsägliche weltweite Geschehen derzeit – nicht allzu weit entfernt und durchaus plausibel scheint. So besehen ist der Debütroman des Autors von einer nahezu unheimlichen, aktuellen Brisanz geprägt.

    Einziger und nicht unwesentlicher Kritikpunkt meinerseits: der oftmals sehr einfache, bisweilen an einen Groschenroman erinnernde Schreibstil des Autors. Manche Wendungen im Geschehen erscheinen einfach zu banal und wenig durchdacht. Zudem trüben unnötige Wiederholungen und bisweilen unangenehm flache Szenarien und Dialoge das Lesevergnügen.

    Der diesbezüglich offenbar ausgebliebene, zuvor mahnend erhobene Zeigefinger seitens des Lektorats hätte dieser dennoch sehr interessanten Veröffentlichung ohne Zweifel gut getan.


    Kai Lüdders
    Mutwille

    2017, Originalausgabe.
    Taschenbuch, 364 Seiten.

    Velum Verlag
    ISBN: 978-3947424009
    € 11,99 [D]

    Am 15. November 2017 erschienen.

  • Johnny Cash: Der Mann in Schwarz

    Ich habe gelesen: „Der Mann in Schwarz“ von Johnny Cash.

    Johnny R. Cash wurde am 26. Februar 1932 in Kingsland im US-Staat Arkansas als Sohn eines armen, tief religiösen Baumwollpflückers geboren. Sein um zwei Jahre älterer Bruder Jack kam 14-jährig bei einem Unfall mit einer Kreissäge ums Leben. Der Vater meinte danach, es habe den falschen Sohn erwischt. Das Trauma saß tief im jungen Cash, es begleitete ihn ein Leben lang.

    Halt gab ihm die Musik, mit der er zunehmend Erfolg hatte. Country, Gospel, Rockabilly, Blues, Folk und Pop – Cash sang von Einsamkeit, unerfüllter Liebe und über Mörder, die auf ihre Hinrichtung warten (Strafgefangene waren für ihn das beste Publikum überhaupt). Seine Songs wirkten glaubwürdig und kamen an. Mit dem zunehmenden Erfolg kam dann der Medikamenten-Missbrauch, Cash geriet in schwere Abhängigkeit.

    Seine unglückliche erste Ehe, aus der die Töchter Rosanne, Kathleen, Cindy und Tara hervorgingen, findet nur wenig Erwähnung. June Carter und ihre Eltern traten in sein Leben, und nun wurde es besser. Mit ihrer Hilfe gelang es Cash, von den Medikamenten loszukommen, und anno 1968 gaben sich June Carter und Johnny Cash das Ja-Wort. Sie wurden zum Traumpaar der Country-Musik. Cash fand zugleich und mit Vehemenz zur Religion zurück, Gottes Wort stand für ihn jetzt über allem. Im März 1970 wurde das einzige gemeinsame Kind von Johnny und June, John Carter Cash, geboren.

    Die hier besprochene Autobiographie endet im Jahr 1973. Für Johnny Cash folgten weitere 30, bewegte Jahre, nachzulesen hier (Wikipedia). Er schrieb über 500 Songs, und bis heute sind rund 100 Alben und 150 Singles des im Jahr 2003 verstorbenen Musikers erschienen.

    Viele seiner Lieder sind zu Klassikern geworden, und das zu Recht. Mich selbst beeindruckt vor allem der Gospelsänger Johnny Cash. Aus seinem Leben wusste ich bis dato wenig, von daher habe ich dieses Buch mit Interesse zur Hand genommen. Um lange Lesepausen kam ich jedoch nicht herum, denn der stark ausgeprägte missionarische Eifer des Autoren war bisweilen nur schwer erträglich.


    Johnny Cash
    Der Mann in Schwarz. Eine schonungslose Selbstbiographie

    1. Auflage 1973
    Gebundene Ausgabe: 270 Seiten

    Verlag Hermann Schulte Wetzlar
    ISBN 3-87739-275-X

  • Der Tiger in der guten Stube

    Ich habe gelesen: „Der Tiger in der guten Stube“ von Abigail Tucker.

    Kein Zweifel: Katzen sind unsere liebsten Haustiere. Weltweit gibt es etwa dreimal so viele Katzen wie Hunde. In unserer Gesellschaft sind sie im Laufe der Jahrhunderte zu einer der erfolgreichsten Tierarten auf dem Erdenrund geworden. Sie beherrschen unsere Wohnungen und sind die Königinnen des Internets. Höchste Zeit also, die wundersame Geschichte der Beziehung von Mensch und Katze ein Buch zu widmen, das derselben mit gebotener Gründlichkeit gerecht wird.

    Abigail Tucker hat dies getan. Sie beleuchtet das Thema von wissenschaftlicher Seite und benennt historische, naturwissenschaftliche, popkulturelle und soziologische Aspekte. Und das alles auf eine lobenswert unterhaltsame Weise – „Der Tiger in der guten Stube“ ist also alles andere als ein langweiliges Sachbuch. Um das pelzige Haustier besser zu verstehen, macht sich die Autorin auf die Reise zu Züchtern, Tierschützern und Wissenschaftlern. Sie spinnt den Faden vom Altertum bis in unsere Zeit, benennt mir bis dato unbekannte Fakten und erzählt Anekdoten, von denen manche meine lang gehegten Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit unserer heutigen Gesellschaft bestärken. Gelegentlich geraten ihre Ausführungen etwas zu ausschweifend – was ich mit zwei längeren Lesepausen ganz gut tolerieren konnte.

    Unter dem Strich jedoch ist die Lektüre dieses unterhaltsamen und lehrreichen Buches jedermann zu empfehlen – Katzenfreunden und Katzenhassern gleichermaßen.


    Über die Autorin:

    Abigail Tucker ist eine mehrfach ausgezeichnete Autorin und Journalistin, die für Magazine und Zeitungen schreibt (u. a. das Smithsonian Magazine und The Baltimore Sun). Das erste Wort ihrer beiden Töchter war „Katze“.


    Abigail Tucker
    Der Tiger in der guten Stube
    Wie die Katzen erst uns und dann die Welt eroberten

    Aus dem Englischen von Martina Wiese, Monika Niehaus und Jorunn Wissmann

    2017, 1. Auflage, 304 Seiten, gebundene Ausgabe

    Theiss Verlag, Darmstadt
    ISBN: 978-3-8062-3647-7
    € 19,95

    Erschienen am 14. September 2017.

  • Halldór Laxness: Atomstation

    Ich habe gelesen: Atomstation von Halldór Laxness.

    Historischer Hintergrund dieses Romans ist die Besatzung Islands durch die Amerikaner (Mitte der 1940er Jahre), welche für 99 Jahre einen Stützpunkt auf der Insel errichten wollen. Das isländische Parlament stimmt dem Ansinnen letztlich zu und schloss den Keflavík-Vertrag ab. Viele Isländer sehen dies jedoch – mit dem Blick auf den sich anbahnenden Kalten Krieg und die erfolgten Atombombenabwürfe in Japan – sehr kritisch, da die Unabhängigkeit Islands gefährdet erscheint.

    Vor diesem politischen Geschehen kommt Ugla, ein ungebildetes Bauernmädchen aus einem abgelegenen Ort Nordislands, nach Reykjavík, um sich bei der Familie eines Politikers als Dienstmädchen zu verdingen und nebenher das Orgelspielen zu lernen. Zunächst wird sie, ob ihrer scheinbar dummen und plumpen Art, verspottet, lernt jedoch schnell ihre Lektionen und emanzipiert sich. Ugla trifft auf mitunter skurrile Figuren und Situationen, kommt mit kommunistischen und anarchistischen Gedanken in Berührung und muss sich zuletzt zwischen einem Leben mit dem reichen Dienstherrn und einem einfachen Polizisten (dem Vater ihres Kindes) entscheiden.

    Halldór Kiljan Laxness (1902 – 1998), Literaturnobelpreisträger und gewiß der bedeutendste isländische Schriftsteller seiner Zeit, schrieb den Roman in den Jahren 1946/47. Er war dazumal von den marxistisch-kommunistischen Lehren inspiriert und protestierte – wie auch seine Romanheldin Ugla – gegen die Stationierung amerikanischer Raketen, denn bei einem potentiellen Atomkrieg würde Island zu einem Angriffsziel werden.

    Der lesenswerte Mini-Roman umfasst gerade 200 Seiten (als Taschenbuch) und ist im Fazit – mit seinem Fokus auf den politischen Umbruch jener Zeit (und unter den speziellen isländischen Gegebenheiten) – ein gelungenes Abbild der isländischen Gesellschaft.


    Halldór Laxness
    Atomstation

    2. Auflage (Januar 2007)
    Taschenbuch: 208 Seiten

    Verlag: Steidl Göttingen
    ISBN-10: 3882438118
    ISBN-13: 978-3882438116
    € 9,90 [D]

  • Stirb nicht im Warteraum der Zukunft

    Ich habe gelesen: „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“ von Tim Mohr.

    Punkrock haben wir ab 1977 im Radio gehört, die Sex Pistols und die Ramones – der NDR hat dazumal auch den nordostdeutschen Äther bedient. Wir waren begeistert und schmissen Hard- und Artrock auf den Müllhaufen der Geschichte, Led Zeppelin und die Stones gehörten plötzlich zum alten Eisen. Und irgendwann tauchten sie dann auch an der Ostseeküste auf, die ersten richtigen Punks. Eine geheimnisvolle Band namens Virus X war in aller Munde, bunte Buttons und subversive Kasetten wurden schwer gehandelt. Wir erinnern uns daran.

    Der US-Autor und DJ Tim Mohr hat nun ein Buch über die DDR-Punks geschrieben: „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft – Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer“. Dafür hat er in Archiven gestöbert und Stasi-Akten gewälzt, vor allem aber auch diverse Zeitzeugen befragt. Deren Geschichten bilden die Grundlage dieses bemerkenswerten, historischen Gesellschaftsdramas. Der Autor schildert in der Hauptsache die Geschichte der Punks in Ostberlin, klarer Fall, denn dort begann alles und die Szene war zweifellos auch die größte ihrer Art in der ehemaligen DDR. Aber auch in Leipzig, Erfurt, Eisleben und Rostock etablierten sich kleine Gemeinden, die im Text nicht unerwähnt bleiben.

    Tim Mohr schreibt von den Anfängen und Protagonisten der Bewegung, den ersten Bands im Untergrund und natürlich vom Bemühen des Staatsapparates, diese dekadenten und asozialen Subjekte zu disziplinieren und an die Wand zu spielen. Besonderes Augenmerk legt er (mit berechtigter Kritik) auf die „Schirmherrschaft der Kirche“, die immerhin versuchte, den Punks in ihren Mauern ein Obdach zu geben. Ging es denen doch keinesfalls nur um Party, Bier und Musik – sondern um mehr: Das System als Ganzes musste fallen. Viele Akteure brachten sich damals in verschiedenster Weise ein (Stichwort Kirche von unten), um aufmüpfig und unverdrossen, trotz Knast, Ausbürgerung und immer währender Bespitzelung seitens der Stasi etwas gegen das Regime zu tun und letztlich dann auch zum Fall der Mauer beizutragen.

    Die Dokumentation endet mit einem Rückblick auf das Berlin nach der Wende: etliche Altpunks besetzten Häuser, betrieben Clubs und wurden Teil der neuen Techno-Szene. Und wohnen heute immer noch in ihrem Berlin …


    Tim Mohr
    Stirb nicht im Warteraum der Zukunft
    Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer

    2017, 1. Auflage.
    Gebundene Ausgabe: 560 Seiten.

    Verlag: Heyne Hardcore
    ISBN: 978-3-453-27127-2
    € 19,99 [D]

    Erschienen am 20. März 2017.

  • Sam Pivnik: Der letzte Überlebende

    Es ist die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden. Das Grauen der Shoa. In Auschwitz, direkt dort, wo Nazischergen die neu ankommenden Juden aus den Zügen trieben, tat der Häftling mit der eintätowierten Nummer 135913 seinen Dienst, räumte die zurückgelassenen Gepäckstücke aus den Waggons.

    Sam Pivnik erzählt die ganze Geschichte. Sie beginnt mit seinem 13. Geburtstag, als die Deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte. Im Zeitraffer erfahren wir, wie sich das jüdische Städtchen Będzin (Oberschlesien) in die Hölle verwandelt. Bombenterror, Verhaftungen und Erschießungen, die Einrichtung des Ghettos. Schließlich die Deportation nach Auschwitz-Birkenau. Mutter, Vater, zwei Schwestern und drei jüngere Brüder werden gleich umgebracht. Für den Autor folgen die Krankenstation von Mengele, Prügel, Unterernährung und letzthin der Todesmarsch. Pivnik überlebt all das wie durch ein Wunder, selbst die brennende Cap Arcona.

    Die Leute fragen mich oft, warum ich so lange gewartet habe meine Geschichte zu erzählen. Das ist eine einfache Frage, aber die Antwort ist es nicht.

    In „Der letzte Überlebende“ erinnert sich Sam Pivnik nach 67 Jahren an die Jahre im Vernichtungslager Auschwitz. Es dürfte heute eine der letzten Stimmen sein, die dabei gewesen waren und vom Unsagbaren erzählen. Mit dem Blick des Augenzeugen seziert er den Lageralltag: die Zählapelle, Zwangsarbeit und willkürliche Gewalt, und zeigt somit das perfide System der Lager auf. Nach der Befreiung und der Auswanderung nach Israel folgt das Abtauchen vieler Nazigrößen und der vergebliche Wunsch nach Gerechtigkeit … Ein wenig irritierend für mich an dieser Odyssee: die plötzlich vorhandene, jedoch nicht genutzte Chance auf Vergeltung (kein Vergeben, und kein Verzeihen!).


    Über den Autor:

    Sam Pivnik überlebte das KZ Auschwitz. Er kämpfte für einen jüdischen Staat in Palästina und ließ sich schließlich als Galerist in London nieder. 2012 erschienen seine Erinnerungen „Der letzte Überlebende“ in Großbritannien.


    Sam Pivnik
    Der letzte Überlebende
    Wie ich dem Holocaust entkam

    2017, 1. Auflage.
    Hardcover, 152 Seiten.

    16 schwarz-weiß Illustrationen.

    Theiss Verlag
    ISBN: 978-3-8062-3478-7
    € 19,95 [D]

    Erschienen am 13. März 2017.

  • Peter Richter: Blühende Landschaften

    Der mensch ist jetzt erst dazu gekommen, dieses schon über zehn Jahre alte Buch zur Hand zu nehmen. Auf der Suche nach dem roten Faden, neugierig und angestachelt durch den erst unlängst gelesenen Roman „89/90“. Im Fazit kann ich sagen, das ich ihn gefunden habe (den roten Faden), und ihn mit großem Vergnügen wieder aufgenommen habe.

    In „Blühende Landschaften“ nimmt Peter Richter uns mit auf seine eigene Reise durch das eben wiedervereinigte Land. Er zieht von Dresden nach Hamburg, also vom Tal der Ahnungslosen in Deutschlands stolzeste Stadt. Ein Zimmer zur Untermiete, studieren und nebenher jobben. Was er dabei erlebte – im Guten wie im Bösen – schrieb er nieder. Auf Freundlichkeiten wird dabei weitestgehend verzichtet, zielsicher und pointiert nimmt der Autor die in Ost und West gleichermaßen und nur allzu gern gepflegten Vorurteile und Klischees aufs Korn, „denen er selbst erliegt, die er zurücknimmt oder resigniert stehen lässt“.

    Dabei bezieht sich Peter Richter keinesfalls nur auf die Gegenwart, sprich die nicht nur in Hamburg unsägliche, wohlfeil beschriebene „aufgeschäumte Latte-Macchiato-Kultur“ (großartig seine Bewerbung in der WG!), sondern berichtet beispielsweise auch von der DDR-Ersatzdroge „Nuth“ (ein schnüffelbarer Fleckentferner), spricht über die Gastarbeiter in der DDR und überhaupt – im Ansatz werden so mancherlei Episoden, die später in „89/90“ in gebotener Ausführlichkeit zur Sprache kommen, erwähnt.

    Nach fünf Jahren ist es dann gut mit Hamburg, der Autor hat die Nase voll und geht zurück in den Osten – nach Berlin.

    Irgendwann reicht einem das ja auch mal mit Hamburg. Bei aller Liebe, die man auch zu dieser Stadt mit der Zeit und gegen ihren Widerstand entwickeln kann […] Aber dann gibt es da leider auch diese hanseatischen Hamburger, die mit goldenen Knöpfen am Jackett in den Segelclub an der Außenalster gehen, während ihre Sprösslinge unterdessen nebenan gegen die persische Moschee pinkeln und das verwegen finden.

    Peter Richter ist ein Mann des Witzes und der zackigen Pointe, und er versteht es vortrefflich, unserer Gesellschaft den notwendigen Spiegel vorzuhalten. So besehen ist „Blühende Landschaften“ tatsächlich ein überaus lesenswertes, höchst amüsantes und kluges, gesamtdeutsches Heimatkundebuch.


    Peter Richter
    Blühende Landschaften: Eine Heimatkunde

    Taschenbuch: 224 Seiten
    Verlag: Goldmann Verlag (8. August 2005)

    ISBN-10: 3442542200
    ISBN-13: 978-3442542208
    € 8,99 [D]

  • Linda Behringer: Die Kanzlerin

    Ein Skandal erschüttert das politische Berlin. Ursächlich dafür ist ein ominöses Video, welches beweisen soll, dass Kanzlerin Angelika Mörkel in aller Heimlichkeit Gelder auf einem Schweizer Konto deponiert hat. Damit steht ganz klar der Vorwurf der Steuerhinterziehung im Raum, was in letzter Konsequenz nur eines heißen kann: Mörkels Rücktritt ist unausweichlich. Ein Paukenschlag!

    Sofort nimmt Regierungssprecher Werner Knauf Angelika Mörkel aus der Schusslinie, um in Ruhe an einer passenden PR-Strategie zu basteln. Derweil wittert Tom Berber – ein junger, aufstrebender Reporter des Observierers – seine große Chance und macht sich, gemeinsam mit etlichen seiner Kollegen, auf die Suche nach der abgetauchten Kanzlerin. Diese scheint spurlos verschwunden, weshalb dem stets geschniegelten Werner Knauf ein Lob gebührt: brachte er die mitunter schwer zu kontrollierende Kanzlerin doch kurzer Hand in der Studentenbutze seines Sohnes in Kreuzberg unter.

    So nimmt die Tour de force ihren Lauf…

    „Die Kanzlerin“ ist das Romandebüt von Linda Behringer und als solches ein ziemlich schräges Road Movie aus dem heutigen Berlin. Ihre Geschichte weiß mit Humor, dem Gespür für Skurriles und ungeahnten Wendungen durchaus zu gefallen und hat mir so manches Lächeln ins Gesicht gezaubert. Allein, der große Schenkelklopfer ist es nicht, dafür mangelt es dem Geschehen (meines Erachtens) schlicht an Biss und Tiefgang. Etwas mehr Bösartigkeit und ein wirklich abgrundtiefer, rabenschwarzer Humor hätten der Story die Würze verliehen, welche diese schöne Idee verdient hätte. Doch daran mangelt es.

    Im Fazit ist „Die Kanzlerin“ also eher die leichte Sommerlektüre für den Nachmittag.


    Linda Behringer
    Die Kanzlerin

    2016, Originalausgabe.
    Taschenbuch, 152 Seiten.

    Books on Demand
    ISBN: 9783741253751
    € 9,99 [D]

    Im Oktober 2016 erschienen.


    Danke für das Rezensionsexemplar – an den Verlag und Catherine Knauf von Literaturtest.

  • Harry Parker: Anatomie eines Soldaten

    Tom Barnes, Captain der britischen Armee, leitet einen Einsatz in einem nicht näher spezifizierten Kriegsgebiet (Irak oder Afghanistan). Auf der Rückkehr ins Camp tritt er auf eine Mine. Er bleibt am Leben, verliert aber beide Beine.

    Mit diesem Szenario beginnt Harry Parkers ungewöhnlicher Roman, der durch eine ganz besondere Erzählweise besticht. Die Geschichte wird aus der Sicht der Dinge erzählt, welche Barnes besitzt, die er benutzt und die seinen Weg kreuzen. Also beispielweise seine Hose, eine Handvoll Dollar, ein Bierglas, Waffen, eine Schneeflocke oder ein Soldatenstiefel. Das klingt dann manchmal, aber nicht immer, ganz genau so.

    Auf diese Weise gelingt es dem Autor überraschend gut, die Banalität des Krieges in all seinen erschreckenden Einzelheiten aufzuzeigen. Nichts wird beschönigt, die Unmenschlichkeit und Grausamkeit des Krieges schreien zum Himmel. Wir erfahren alles über diesen Tom Barnes, von seinen Überzeugungen und seinen Selbstzweifeln auf dem langen Weg der Genesung. Dazu kommen immer wieder Rückblenden auf die Katastrophe an sich, wir erleben die Geschichte zweier einheimischer Jungs im Krisengebiet, lernen die Eltern des Schwerverwundeten ebenso kennen wie Ärzte, Schwestern und Kameraden.

    Ich bin ein olivgrüner Dreißigliter­Tagesrucksack. BA5799 hat mich in einem Army­ Sonderpostenladen in einer Garnisonsstadt gekauft, als er noch in der Ausbildung war. Während meiner ersten Übung versuchte er mich einzuschmutzen, damit ich nicht länger neu aussah, sondern geschunden und gelebt – nicht wie er sich fühlte, aber wie er sich wünschte, sich zu fühlen.

    Noch ein paar Worte zum Autor: Harry Parker ging mit 23 zur Armee und war im Irak und Afghanistan im Einsatz. Er stammt aus einer Familie von Soldaten und verlor bei einem Einsatz in Afghanistan anno 2009 beide Beine. Seither läuft er auf Prothesen und lebt als Künstler und Schriftsteller in London. Dieser sein Debütroman wurde zum Überraschungserfolg und wurde in Großbritannien Roman des Jahres. Und das zu Recht.

    Die „Anatomie eines Soldaten“ berichtet also vom Krieg, von tiefen Wunden und vom Überleben, und ist im Fazit doch ein sehr bewegender und aufwühlender Anti-Kriegsroman.


    Harry Parker
    Anatomie eines Soldaten
    Roman

    2016, Originalausgabe.
    Hardcover mit Schutzumschlag, ca. 350 Seiten.

    Benevento 2016
    ISBN: 978­3­7109­0002­0
    € 24,00 [D]
    Erschienen am 9. November 2016.


    Danke für das Rezensionsexemplar – an den Verlag und Sophie Zue von Literaturtest.